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Die Polyvagaltheorie: ein neuer Blick auf Trauma und Heilung


Viele wissen, dass ich in meiner Arbeit mit Traumata gerne die Polyvagaltheorie als Basis nutze. Sie ist mir in der Zeit meiner körpertherapeutischen Ausbildung (TVM) begegnet und ich schätze die Erkenntnisse, die meine Klienten und ich stets daraus ziehen, sehr. Vielleicht geht es dir ja auch so ;)


Die Polyvagaltheorie, entwickelt von Dr. Stephen Porges, hat die Traumatherapie revolutioniert. Sie beschreibt, wie unser autonomes Nervensystem (ANS) auf Stress oder Gefahrensituationen, reagiert und bietet neue Ansätze für die Behandlung von Traumata.



Was ist die Polyvagaltheorie?


Porges hat in seiner Polyvagaltheorie unser bisheriges Verständnis des autonomen Nervensystems erweitert, indem er behauptet, dass wir Menschen uns in drei (statt der bisher angenommenen zwei) Hauptzuständen befinden können:


  1. Der ventral-vagale Zustand (soziale Verbundenheit): In diesem Zustand fühlen wir uns sicher und geborgen, wir können uns sozial engagieren und in Konakt Wtreten, kreativ denken, ruhig Entscheidungen treffen und Emotionen reguliert erleben. Hier befindet sich unser Nervensystem im Parasympathikus, d.h. unsere Atmung ist ruhig, der Magen-Darm-Trakt funktioniert und wir haben Apetit.


  2. Der sympathische Zustand (Kampf- oder Fluchtmodus): Wenn wir uns in Gefahr oder bedroht fühlen, dann aktiviert sich in uns ein alter Mechanismus, um uns zu schützen: FIGHT OR FLIGHT. Das bedeutet, unser gesamter Organismus macht sich bereit, entweder zu fliehen oder zu kämpfe. Unser Nervensystem befindet sich im Sympathikus, d.h. unsere Herzfrequenz steigt an, die Atmung wird schneller, Adrenalin schießt durch den Körper. In unserem Alltag kann sich das in Wut oder Hyperaktivität äußern, aber auch durch ständiges Unterwegssein, unruhige und schlaflose Nächte, als auch in hohem Blutdruck.


  3. Der dorsale Vagus-Zustand (Erstarrung/Dissoziation): Wenn weder der Kampf noch die Flucht uns retten konnte, oder eine Situation als vollkommen stressig und überwältigend wahrgenommen wurde, schaltet unser Körper auf "Starre", so wie man es von Tieren kennt, wenn sie sich in Gefahr tot stellen. Dieser Mechanismus kann essentiell für das Überleben und die Abwendung einer Gefahr sein. Unser Nervensystem befindet sich in diesem Zustand wieder im Parasympathikus, d.h. unsere Atmung ist langsam, jedoch meist fast nicht wahrnehmbar, wir haben mit starken Verspannungen zu kämpfen, schlafen meist viel und sind sehr erschöpft. Unser Organisimus reagiert mit einer sog. "Abschaltung" unserer Wahrnehmung, damit z.B. schmerzhafte Erlebnisse uns nicht überrollen, was sich dann in Gefühlen von Hoffnungslosigkeit, Depression oder Ohnmacht äußern kann.


Unser Nervensystem wechselt ständig zwischen diesen Zuständen, wobei frühere traumatische Erfahrungen oft dazu führen, dass wir in gewissen Zuständen länger verharren und der natürlich Wechsel nicht mehr richtig funktioniert.




Die Polyvagaltheorie in der Traumatherapie


Ich nutze die Polyvagaltheorie sehr gerne, um Klienten zu helfen, ihr Nervensystem besser zu verstehen, ihren Zustand leichter deuten zu können und ihn so auch regulieren zu lernen.


Einige Schlüsse, die man aus der Polyvagaltheorie für eine erfolgreiche Trauma-Arbeit ziehen kann, sind:


  • Sicherheitsgefühl herstellen: Eine der wichtigsten Maßnahmen in der Traumatherapie ist die Schaffung eines sicheren Rahmens, damit sich das Nervensystem aus dem Überlebensmodus lösen kann. Dies geschieht meist nicht von heute auf morgen und braucht viel Geduld, sowohl von mir, als auch von dir ;)


  • Körperwahrnehmung schulen: Durch somatische Übungen wie Atemtechniken, sanfte Bewegungen oder Achtsamkeitstraining lernen Betroffene, ihren Körper wieder wahrzunehmen und sich mit den eigenen Empfindungen "anzufreunden" (im Englischen sagt man so schön "to befriend your sensations"). Traumatische Erlebnisse gehen oft mit starken körperlichen und emotionalen Empfindungen einher, weswegen diese erstmal "abgeschaltet" werden. Stück für Stück lernen wir, diese Empfindungen zu fühlen, ohne Angst vor ihnen zu haben.


  • Soziale Interaktion fördern: Da soziale Bindungen das ventrale vagale System aktivieren, sind sichere zwischenmenschliche Beziehungen essenziell für die Heilung. Gleichzeitig weiß man auch, dass Menschen mit traumatischen Erlebnissen Schwierigkeiten haben, zwischenmenschliche Nähe zuzulassen und das, was den ventralen-vagalen Zustand hervorrufen würde, für viele eher eine Qual ist. Hier gilt es, auf verschiedenen Ebenen zu arbeiten und das Bedürfnis nach Distanz und Allein sein zu respektieren und zu berücksichtigen.


  • Trauma-sensible Methoden wie EMDR, Somatic Experiencing, Limitless oder TVM: Diese Ansätze helfen, altes abgespeichertes Trauma-Material aus dem Körper zu befreien und das Nervensystem neu zu regulieren. Diese Methoden nennt man auch "bottom up", da man von "unten nach oben" behandelt, d.h. man arbeitet auf körperlicher und unbewusster Ebene (unten), die dann dazu führt, dass sich Gedanken und Muster (kognitive Ebene = oben) verändern.




Fazit


Die Polyvagaltheorie bietet ein tiefgehendes Verständnis dafür, wie unser Nervensystem auf Trauma reagiert und welche Wege zur Heilung führen. Indem Betroffene lernen, ihre physiologischen Reaktionen zu erkennen, fangen sie an, wieder Freundschaft mit ihrem eigenen Körper und Nervensystem zu schließen und lernen, in herausfordernden Situationen für sich zu sorgen.


Hast du Erfahrungen mit traumatherapeutischen Ansätzen gemacht oder möchtest mehr über spezifische Methoden wissen? Lass es mich gerne in den Kommentaren wissen!


Bis ganz bald,

deine Becci




Add on: Buchempfehlungen


Da ich sehr gerne und sehr viel lese, wirst du unter meinen Blogeinträgen immer wieder neue Buchempfehlungen finden, vielleicht interessiert dich ja das ein oder andere...



Stephen W. Porges: "Polyvagaltheorie und die Suche nach Sicherheit"


Stephen W. Porges: "Die Polyvagaltheorie: Neurophysiologische Grundlagen der Therapie. Emotionen, Bindung, Kommunikation & ihre Entstehung."



Bücher waren - und sind nach wie vor - für mich einer der Schlüssel zur Heilung. Zu verstehen, was in mir und in anderen passiert, kann ein großer Schritt zu mehr Selbstvertrauen und Mitgefühl sein.

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